Freitag, 7. März 2014

Der Psychoanalytiker Mitscherlich und die Massenpsychologie


Mitscherlich-Massenpsychologie
Massenpsychologie

" Es ist nicht nur so, daß wir Massenpsychologie betreiben müssen, um die kollektiv prägenden Kräfte im Einzelnen verstehen zu können, sondern wir auch diesen Einzelnen im Hinblick auf seine Geprägtheit sehen müssen, um zu begreifen, welche Rolle er im Dasein der Massenhaftigkeit spielen kann und welche Leistungen ihm nicht zugemutet werden dürfen. Die Abhängigkeit des Menschen als Einzelwesen von den Gruppen, in denen er aufwächst, in denen er seine sozialen Leistungen vollbringt bis zu seiner Formung durch den 'Zeitstil', ist ein unentrinnbares Geschehen."

(Mitscherlich 1972:45)

Der Psychoanalytiker Mitscherlich formuliert eine genuin soziologische Frage und Aufgabenstellung exakt so, wie sie den Soziologen anstünde.

Leider zeigen der rationalistisch orientierte "methodologische Individualismus" und die komplexitätsverliebte Systemtheorie lediglich, dass die Soziologie in einer Sackgasse steckt.

Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie das Unbewusste nicht als strukturelle Basis menschlichen Verhaltens begreifen.

Bietet dieser Zugang der Psychoanalyse das bessere, theoretische Fundament für eine überzeugende Struktur-Soziologie?

3 Kommentare:

  1. Könnten Sie die Kritik an der soziologischen Systemtheorie etwas präzisieren? Sie haben sicherlich Recht, wenn Sie schreiben, dass die Systemtheorie das Unbewusste nicht als strukturelle Basis des Verhaltens begreift. Mithin bietet die Systemtheorie aber einen Analyseansatz an, der es erlaubt auf solche Konstrukte wie „Das Unbewusste“ zu verzichten. Sie haben es in einem der anderen Posts selbst geschrieben, das Unbewusste ist das Noch-Nicht-Bewusste. Ich würde formulieren, dass Unbeobachtete ist das noch nicht Beobachtete. Es handelt sich also um eine Differenz in der Zeit und damit um eine Frage der Entwicklung. Was machen Sie als Psychotherapeut anderes als den Klienten dabei zu helfen, dass Noch-Nicht-Bewusste bewusst zu machen? Formuliert man das Problem als Entwicklungsproblem, kann man auf die Vorstellung des Unbewussten verzichten.

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  2. Luhmann führt seine rationalistische, radikal konstruktivistische Soziologie, ich nenne sie mittlerweile liebr Sozialphilosophie, logisch konsequent durch. Allerdings ist der Preis hoch und seine Konstruktion wird wirklichkeitsfremd, wenn soziales Verhalten TYPISCHERWEISE nicht rational selbstgesteuert, sondern unbewusst fremdgesteuert ist.

    Auch der Systemtheoretiker Peter Fuchs entlarvt das Unbewusste als Schwachstelle der Luhmannschen Systemtheorie beim Vergleich mit der Psychoanalyse Freuds und Lacans. Beide Theorien haben einen universalistischen Anspruch, keine kann die andere einfach ersetzen. Ihr Kontakt geht in folgende Richtung:

    „Es ist ohne Frage die Systemtheorie, die mit ihrer Beobachtungsdifferentialität den Kontakt ausarbeitet, aber dieser Vorteil wird auf satte Weise ausgeglichen dadurch, daß sie es damit ist, die sich der Gefahr aussetzt, als zu schwach beobachtet zu werden.“ (Fuchs 1998: 237)

    Welche Möglichkeiten, voneinander zu lernen, ergeben sich aus der Sicht des Systemtheoretikers?

    „Die Stoßrichtung ergibt sich aus der Vorstellung, daß auch die Beobachtung des Bewußtseins durch die dafür eingesetzten Bewußtseinsexperten auf Kommunikationsprozesse umgeschrieben werden könne. Es geht also um die weitere Radikalisierung des Projekts der Umschrift psychisch gedeuteter Prozesse auf Sozialität.“ (Fuchs 1998: 237)

    Die Psychoanalyse und die Entdeckung des Unbewussten könnten 100 Jahre nach Durkheim und Freud zu einem neuen Fundament einer wissenschaftlichen Struktursoziologie werden, nach den letztlich gescheiterten Versuchen, den methodologischen Individualismus und die darauf aufbauende soziologische Theorie als DIE Methodologie und Theorie der Soziologie zu etablieren.

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  3. Zukunftsperspektive

    Freud hat die „Aushebelung des Bewußtseins als Zentralinstanz des Psychischen“ (Fuchs 1998: 239) vollzogen. Heute feiert das Unbewusste, lange Zeit als wissenschaftlich unbegreifbar behandelt, in den Neurowissenschaften als „das Implizite“ ein dramatisches Comeback.

    Das könnte laut Peter Fuchs unabsehbare epistemologische Folgen haben, da die Idee der Einheit des Bewußtseins und der unserer Vorstellung des Subjekts aufgegeben werden muß.

    Seine Horrorvision, m.E. der einzig realistische Weg für die Soziologie:

    „ Diese Einsicht (dass Bewusstsein und Gesellschaft polykontextural und selbstblind sind, G.Sch), gesellschaftlich kommuniziert oder gar akzeptiert, würde das, was dann noch an Kommunikation möglich ist, dramatisch verändern. Alle kommunikativen Zurechnungsroutinen und –strategien würden erodieren. Das Bewußtsein müßte seine Sozialität entdecken, die absolute Dominanz der Verlautbarungswelt. Das entscheidende >Wesen< wäre die Gesellschaft, die jedes einzelne Bewußtsein so durchflutet, daß es sich selbst nicht anders als mit den so angelieferten sozialen Unterscheidungen entdecken kann. Statt würde man sagen können: Subjekt. … UND –HORRIBILE DICTU - : DIE WISSENSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN WÄRE DIE SOZIOLOGIE (Hervorh.G.Sch.), die Lehre von den sozialen Unterscheidungen.“ (Fuchs 1998: 239/240)

    Das Projekt Durkheims kann in eine neue Phase eintreten, nicht als Schreckensvision, sondern als ein weiterer Schritt, Soziologie als Wissenschaft weiterzuentwickeln.

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